R. Bloch u.a. (Hrsg.): Jüdische Lebens- und Denkwelten

Cover
Titel
Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000


Herausgeber
Bloch, René; Jacques, Picard
Reihe
Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz 16
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
525 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerhard Langer, Orientalisches Seminar/Judaistik, Freiburg

Der Band versammelt 800 Jahre Geschichte der Juden in Bern, vorgestellt von 25 Autorinnen und Autoren unter der Herausgeberschaft von René Bloch und Jacques Picard. Über 500 Seiten, geschrieben auf hohem Niveau, gleichzeitig spannend und für eine breite Leserschaft voller hochinteressanter Einblicke in eine Stadtgeschichte, die auch ein vielsagendes Beispiel für die Schweizerische und darüber hi¬aus mitteleuropäische Geschichte darstellt.

So ist das Mittelalter geprägt von der beständigen Gefahr der Rechtsunsicherheit und Vertreibung, wo Juden als Spielball der Mächtigen behandelt werden. 1427 ausgewiesen mit dem Vorwurf des Wuchers, nach dem Dreißigjährigen Krieg erst wieder in größerer Zahl ansässig, Ende des 18. Jh. erneut mit Handelsverboten konfrontiert, dauert es nach zahlreichen Fort- und noch mehr Rückschritten beim Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft bis 1866, bis das uneingeschränkte Niederlassungs- und Handelsrecht, im Übrigen gegen den Will-len der Mehrheit der männlichen Berner Stimmbürger, beschlossen wurde. Auch beim Schächtverbot stimmten die Berner mit einer großen Mehrheit von 75 % weit über dem Schweizerischen Durchschnitt dafür.

Zuzug für die Gemeinde kam vor allem aus dem Elsass. Handel, nicht zuletzt Pferdehandel, war die bestimmende Berufsrichtung, dazu kamen Tuchhändler, Speisewirte, Antiquitätenhändler und andere. Im Buch werden auch einzelne Beipiele herausgegriffen, so, um nur zwei zu nennen, das der Familie Loeb oder der Schokoladenfabrikantin Camille Bloch, für die jüngere Zeit dann auch des Präsidenten Georges Brunschvig oder der Rabbinerdynastie Messinger oder Roland Gradwohls. Statistiken, wie Bevölkerungsentwicklung, Beschreibungen etwa zu den Synagogenbauten oder der Burgerbibliothek, aber auch Angaben zu den jüdischen Professorinnen und Professoren an der Universität erlauben detaillierte Kenntnis der En-wicklung des Judentums in Bern.

Eine Reihe von Einzelbeiträgen beschäftigt sich mit der Entwicklung ab der zweiten Hälfte des 19. Jh., so auch mit dem Zuzug vor allem russischstämmiger Juden, oft sozialistisch gesinnt, auf der Flucht vor den zaristischen Verfolgungen. Schriftsteller, Künstler und Gelehrte werden ebenfalls ausführlich behandelt, so der Exeget, Religionsgeschichtler und Philosoph Yehezkiel Kaufmann, die Literatin Else Lasker-Schüler, der Philosoph Ludwig Stein, der Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel. Bern war Wirkungsort wichtiger Philosophen, Psychologen, Jiddisten; Moritz Lazarus, Micha Josef Berdyczew-ski, Chaim Zhitlowsky, um nur drei zu nennen, oder Walter Benjamin und Gerschom Scholem, die einen Teil der Studienzeit in Bern verbrachten, nicht zu vergessen Albert Einstein, der sich von 1902–1909 in Bern aufhielt. Anna Tumarkin, die wichtige Philosophin, war im Übrigen die erste Professorin Europas. In Bern hielten sich um 1900 etwa 200 jüdische Studierende (von insgesamt 900) – häufig aus Russland stammend – auf, darunter ein großer Prozentsatz Frauen.

Die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg ging mit strengeren Einbürgerungsvorschriften und dem Erstarken fremdenfeindlicher Tendenzen einher, was zur Verschlechterung der Situation für Ein-bürgerungswillige führte. Nun ging der jüdische Bevölkerungsanteil zurück. Gleichzeitig stiegen innerhalb der Kultusgemeinde die Anstrengungen, gegen den Antisemitismus vorzugehen, dem sich mehrere Ressorts widmeten. Dabei stärkte sich der jüdische Zusammenhalt, wozu auch die Gründung des jüdischen Turnvereins beitrug.

Der Berner Prozess gegen die Protokolle der Weisen von Zion, jener furchtbaren antisemitischen Fälschung, endete 1937 mit einem Freispruch der Angeklagten, da es noch keine ausreichende Handhabe gegen antisemitische Propaganda gab (erst 1995 mit der Antirassismusstrafnorm) und der Artikel über Schundliteratur nicht ausreichte, um zu einer Verurteilung zu führen.

Restriktive und antisemitische Flüchtlingspolitik zwischen 1933 und 1945, die vielen Bemühungen jüdischer Organisationen für die Flüchtlinge, die Kampagne gegen die Grenzsperre sind weitere wichtige Meilensteine, die im Buch hervorragend beschrieben werden.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Entwicklung nach 1945, vor allem auch nach der Staatengründung Israels 1948 bis hin zur Gründung einer Professur für Judaistik, die heute René Bloch innehat. Die inneren Entwicklungen der Gemeinde, die verschiedenen Reformversuche, die einzelnen Vereine werden ausführlich behandelt. Ein wichtiger Meilenstein war auch die Anerkennung der israelitischen Gemeinde als öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft. Damit wurde Judentum nach 800 Jahren als verfassungsmäßig verankerter Bestandteil der Gesellschaft wahrgenommen.

Das Buch ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer Aufarbeitung Schweizerischer und europäischer jüdischer Geschichte und hält zudem viele Details über die spezifische Entwicklung in Bern bereit. Es soll allen Interessierten wärmstens ans Herz gelegt werden.

Zitierweise:
Gerhard Langer: Rezension zu: René Bloch/Jacques Picard (Hg.), Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000 (=Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz 16), Zürich, Chronos, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 541-542.

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